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Trinity Buckalew schlief noch immer, als ich mich mit Woo-fer auf unseren Morgenspaziergang machte. Ich hatte ihr noch am Abend einen von Freds Pyjamas und eine neue Zahnbürste ins Gästezimmer gelegt, und ein kurzer Blick hatte mir gezeigt, dass sie die Sachen gefunden hatte. Fred hatte das Haus sehr früh verlassen und mir geraten, mich noch mal hinzulegen. Wir hatten am Vorabend nicht über seine Probleme mit Universal Satellire geredet. Genauer gesagt war Haley bis nach zehn geblieben, und Fred war schon lange vorher in seinem Sessel eingeschlafen. Hätte er irgendwas gehört, hätte er allerdings Zeit gehabt, es mir zu erzählen.

Es war ein ruhiger und sonniger Morgen. Woofer, dieser herrliche Mix aus allen nur erdenklichen Hunderassen, amüsierte sich in vollen Zügen, erschnüffelte, welcher Hund, welche Katze oder welches Eichhörnchen vorbeigekommen war, und markierte den Weg für die, die nach ihm kommen würden.

Als wir zu Hause ankamen, saß Trinity am Küchentisch und trank Kaffee. Sie war angezogen, aber ihr Haar war noch nass vom Duschen. „Ich habe Kopfschmerzen“, sagte sie. Ich griff in den Wandschrank und zog die Aspirinpackung für sie hervor.

„Ihre Schwester hat angerufen. Ich habe ihr erzählt, dass ich aufgrund meiner Einkerkerung und Ihrer Freundlichkeit hier bin.“ Sie schüttete vier Aspirin in ihre Hand; ich

 

reichte ihr ein Glas Wasser. „Sie hat eine Nachricht hinterlassen. Sie sagt, er sei ein Tiger.“

„Ein Tiger, ah ja?“

Trinity schluckte die Aspirintabletten mit derselben Hüh-nerkopf-nach-hinten-Bewegung hinunter wie am Tag zuvor. „Ein Tiger“, wiederholte sie.

„Sie meint damit den steinalten Richard Gere, mit dem sie gestern Abend ein Rendezvous hatte. Ich ruf sie an und lasse mir die Details berichten“, sagte ich. „Möchten Sie Cetreideflocken?“

„Das wäre nett. Und danke für den Pyjama und die Zahnpasta. Ich vertraue darauf, dass mein Ubernachtungs-koffer noch in meinem beschlagnahmten Wagen liegt.“

„Keine Ursache.“ Ich füllte jeder von uns ein Schälchen mit Frühstücksflocken und stellte sie auf den Tisch. „Wir müssen uns telefonisch erkundigen, wo Ihr Auto steht und wie Sie es wiederbekommen.“

„Ich habe gerade erst mit meiner Freundin Georgiana Peach gesprochen. Sie ist gestern am späten Abend nach Hause gekommen. Sie sagte, sie will mich hier abholen und mit mir zusammen das Auto auslösen.“ Trinity begann ihre Frühstücksflocken zu essen. „Zum Glück war nicht ich es, die ihr die Neuigkeiten über Meg übermitteln musste. Eine der Frauen, die für sie arbeiten, hat sie gestern in Charleston angerufen.“

Ich dachte an das Paket, das noch immer auf dem Couchtisch stand. Als würde sie meine Gedanken lesen, sagte Trinity: „Ich nehme Meg heute mit nach Hause.“

Mir fiel keine andere Antwort ein als „Es tut mir so leid“.

Trinity nickte. Wir aßen stumm unsere Getreideflocken, während draußen vor dem Erkerfenster der Frühling einen großen Sprung machte.

Trinity brach das Schweigen.  „Meg war ein schönes

 

Mädchen, Patricia Anne. Sie haben sie als alte Dame gekannt, aber als sie jung war, hat sie den Männern unglaublich den Kopf verdreht.“

„Sie war noch immer eine schöne Frau“, sagte ich.

„Und entschlossen.“ Trinity lächelte. „Als sie sich in den Kopf gesetzt hatte, Bobby Haskins zu heiraten, hatte der keine Chance.“

„Ich glaube nicht, dass er sich sehr heftig dagegen gewehrt hat.“ Ich stand auf, um Kaffee nachzugießen. „Wie kam es, dass Meg sich so für Ahnenforschung interessierte?“

Trinity nahm sich die Zuckerdose. „Ich glaube, sie hat schon immer etwas dafür übrig gehabt. Das Grand Hotel war im Bürgerkrieg ein Krankenhaus, weshalb es am Stadtrand von Fairhope direkt hinter unserem Haus einen großen Friedhof der Konföderierten gibt. Wir spielten jedenfalls als Kinder dort immer Yankees und Rebellen. Wir lasen die Namen auf diesen weißen Kreuzen, die sie benutzten, und dachten uns Geschichten für die jeweilige Person aus. Erfanden ganze Familien. Meg sagte, wir würden sie damit aus dem Totenreich zurückholen. Beth hasste es, sagte, es würde ihr Gänsehaut bereiten. Mitgemacht hat sie dann aber doch.“

Im selben Moment, in dem sich die Hintertür öffnete und Mary Alice hereinkam, klingelte es vorn an der Haustür.

„Das an der Haustür wird Georgiana Peach sein“, sagte Trinity.

„Sie hat eine Freundin, die so heißt und die jetzt draußen an der Tür steht“, erklärte ich Schwesterherz.

„Ich lass sie rein.“ Trinity verschwand im Flur.

„Georgiana Peach?“ Schwesterherz sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Er ist ein Tiger?“, antwortete ich mit ebenfalls hochgezogenen Augenbrauen.

 

Schwesterherz kicherte. „Das erzähl ich dir später.“

Stimmen waren im Flur vernehmbar, und da stand sie -Georgiana Peach, die Frau mit dem glamourösen Namen, und war ein kleiner, grauer Vogel. Ein Zaunkönig. Ein Spatz. Trinity überragte sie um Längen.

Wir stellten uns gegenseitig vor, gössen uns Kaffee ein und saßen dann zu viert am Küchentisch.

„Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben.“ Georgiana Peach tupfte ihre Augen mit einem Papiertaschentuch trocken. „Ich habe Meg gesagt, sie solle nicht all diese schlafenden Hunde wecken. Du weißt, dass ich ihr das gesagt habe, Trinity, stimmt's?“

Ihre Stimme passte zu ihrem Namen — eine hauchige Marilyn-Monroe-Stimme; ihre kleinen Vogelaugen nahmen das Inventar meiner Küche auf. Diese Frau, dachte ich, hatte ganz genau gewusst, wo jedes einzelne Aktienpapier im Haus ihrer verstorbenen Tante versteckt war. Sie traf meinen Blick und sah zu ihrer Kaffeetasse hinunter.

„Ja, das hast du<-, gab ihr Trinity recht.

„Sie war an irgendwas ganz Großem dran. Wollte niemandem etwas davon erzählen.“

Trinity fiel ihr ins Wort. „Die Abstammungsunterlagen von Bobby Haskins.“

„Was Größerem“, sagte Georgiana.

„ Auf der Hochzeit hat eine Frau sie Miststück genannt“, sagte ich. „Eine Camille soundso.“

„Atchison?“, fragte Georgiana.

„Ich denke ja.“

„Meg hat sie nicht bei den Töchtern der Amerikanischen Revolution aufgenommen. Das hat sie fuchsteufelswild gemacht. Aber es muss noch was Größeres sein.“ Georgiana Peach schloss ihre Augen und legte die Fingerspitzen an die Stirn. „Lasstmich nachdenken.“

 

„Georgiana ist so eine Art Hellseherin“, verkündete Trinity stolz.

Die Fingerspitzen senkten sich. „Manchmal sehe ich Dinge. Aber es war mein Bruder, George Peach, der hellsehen konnte. Er hat sich als kleiner Junge einmal unter dem Haus versteckt, weil Mama ihm den Hintern versohlen wollte. Er kam an eine Leitung oder so, und es gab einen lauten Knall, und er behauptete, er sehe klar wie nur sonst etwas ein weißes Pferd herangaloppieren. Wir zogen ihn heraus, und obwohl er einen Schlag abgekriegt hatte, war alles in Ordnung. Danach konnte er jedoch Dinge sehen. Hatte Visionen.“

„Sie haben einen Bruder namens George Peach?“, fragte Mary Alice.

„Hatte ich. Er war mein Zwillingsbruder. Kam in Vietnam um. Wir wussten aufgrund dieses weißen Pferdes immer, dass er früh von uns gehen würde. Es ist ein sicheres Zeichen.“ Die Fingerspitzen wanderten wieder an die Stirn. „Lasst mich nachdenken.“

„Ich hol noch mehr Kaffee“, sagte ich. „Und wer hätte gern eine Hefeschnecke dazu?“

Schwesterherz folgte mir vom Tisch. „Eine Spinnerin“, murmelte sie. Aber ich war nicht ihrer Meinung. Es gab nichts in meiner Küche, was diese Vogelaugen nicht erfasst hatten.

Ich holte ein paar Hefeschnecken aus dem Gefrier-schrank und legte sie eine Minute lang in die Mikrowelle. Das Telefon klingelte, und Schwesterherz ging dran.

„Großartig amüsiert“, versicherte sie dem Anrufer und lachte wie eine Fünfzehnjährige. „Hier“, sagte sie und hielt mir das Telefon hin, „es ist Fred.“

„Ich wollte nur wissen, ob alles okay bei dir ist heute früh“, sagte er. Die Freuden einer langen Ehe, das Unausgesprochene in den gewöhnlichsten Unterhaltungen.

 

„Mir geht's gut. Ich backe gerade ein paar Hefeschnecken auf. Ist mit dir auch alles in Ordnung?“

„Ich fahr nach Atlanta rüber. Ich habe beschlossen, dass ich die Universal-Satellite-Angelegenheit nicht einfach auf sich beruhen lassen kann. Ich muss dem Problem auf den Grund gehen.“

„Sei vorsichtig.“

„Ich bin noch vor der Dunkelheit zurück. Nebenbei bemerkt, wie geht es denn deinem Besuch heute Morgen?“

„Sie scheint okay. Eine Freundin von ihr ist da.“

„Cut. Ich ruf dich an, falls ich mich verspäte.“

„In Ordnung. Ich mach dir was Schönes zum Abendessen .“

Wir verabschiedeten uns und legten auf. Schwesterherz nahm die Schnecken aus der Mikrowelle und blickte mich fragend an. „Er fährt heute kurz rüber nach Atlanta.“

„Er sollte sich einen Jet zulegen. Damit kann man in einer halben Stunde dort sein.“

„Sei still!“ Ich nahm die Hefeschnecken und legte sie auf einen Teller. „Bring noch etwas Kaffee mit.“

Georgianas Fingerspitzen waren noch immer an ihrer Stirn, als wir an den Tisch zurückkehrten. Sie öffnete ihre Augen und verkündete, dass es ein Mann gewesen sei, der Meg das Leben genommen habe.

Trinity nickte. „Bobby Haskins. Ich wusste es.“

Ich stellte die Hefeschnecken auf den Tisch. „Haben Sie gesehen, was er anhatte?“, fragte ich.

Georgianas Vogelblick durchbohrte mich. „Nein.“

„War er jung oder alt?“ Schwesterherz meinte es ernst. Sie setzte sich und griff nach einer Schnecke.

„Das könnte ich nicht sagen“, hauchte Georgiana dahin. „Aber es war ein Mann.“

„Bobby Haskins“, wiederholte Trinity.

 

Ich nahm mir ebenfalls eine Schnecke.

„Die sind gut.“ Georgiana leckte sich Zuckerguss von der Lippe.

„Erzähl ihnen von George Peach und den Moon Pies“, sagte Trinity.

Georgiana lächelte. „Er war der Moon-Pie-Weltmeister.“

„Erzähl ihnen die ganze Geschichte“, insistierte Trinity.

„Also, in Oneontagibtes jedes Jahr einen Moon-Pie-Tag, und George Peach liebte diese großen Kekse mit Marshmal-lowfüllung. Es war also ganz klar, dass wir nach Oneonta gingen, um zu sehen, was da passierte. Unter anderem fand ein Moon-Pie-Wettessen statt. Es gab dort einen langen Tisch voll mit Vanille-, Schokoladen- und Bananen-Moon-Pies, und George Peach konnte nicht widerstehen.“ Georgiana machte eine Pause, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. „Ich weiß noch, dass er verschiedene Geschmacksrichtungen wählte, weil er dachte, einer einzigen überdrüssig zu werden. Und Herr im Himmel! Noch nie habe ich Leute derartig essen sehen. Krümel flogen, Marshmallowpampe klebte überall auf dem K-Mart-Parkplatz. Es war, als würde man in Kaugummi treten, so zog das Zeug Fäden an den Schuhen. Und George Peach hörte nicht auf, sich Moon Pies reinzustopfen. Wir wussten, dass er gewinnen würde. Ein Mann versuchte zwar zu behaupten, dass er wie George fünfzehn Stück gegessen hätte, er wurde aber disqualifiziert, weil er den letzten nicht runtergeschluckt hatte. Manche Leute versuchen es eben immer, oder?“

Wir stimmten ihr zu.

„Aber George hatte seine fünfzehn Minuten, stimmt's nicht?“, sagte Mary Alice. Sie hielt ihre Kaffeetasse hoch. „Auf George Peach.“

„Auf George Peach“, erwiderten wir und erhoben feier-

 

lieh unsere Tassen. Ich blickte hinüber zu Georgiana, und ihre Augen glänzten tränenfeucht. Die ungerechtfertigte Feindseligkeit, die ich ihr gegenüber empfunden hatte, verschwand wie Kaffeedampf.

Wir saßen ruhig ein paar Minuten lang da, jede von uns ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen nachhängend. Schließlich schob Georgiana ihren Stuhl zurück. „Können wir jetzt dein Auto holen, Trinity? Ich muss wirklich los. Ich war drei Tage nicht im Büro, und ich weiß, dass da ein Packen Arbeit auf mich wartet.“

„Wo arbeiten Sie denn?“, fragte Schwesterherz.

„Ich habe seit einem Jahr meinen eigenen genealogischen Recherchedienst, den 'Stammbaum-. Ich habe zwei Mitarbeiterinnen für halbe Tage, und wir haben immer viel zu tun. Meg arbeitete gelegentlich auch für mich. Ich benötige manchmal Zusatzhilfe, und sie hat ein paar Forschungen für mich angestellt. Natürlich hatte sie auch viele eigene Kunden.“ Sie wandte sich an Trinity, die ebenfalls aufgestanden war. „An was arbeitete sie gerade, Trinity?“

„Keine Ahnung.“

Ich ergriff das Wort. „Sie erzählte was von den Fitzgeralds aus Mobile, stimmt's nicht, Schwesterherz? Oder vielleicht hießen sie auch Fitzpatrick.“

Mary Alice zuckte die Schultern. „Ich erinnere mich nicht.“

„Nun, wenn Sie wirklich der Ansicht sind, dass Meg nicht Selbstmord verübt hat, dann sollten Sie herausfinden, an was sie gearbeitet hat.“ Georgiana zog eine grüne Strickjacke an, die ihrem Teint eine grünliche Farbe verlieh. „Ich weiß, welches Programm sie gewöhnlich benutzte, für den Fall, dass ich mir ihren Computer ansehen soll.“

„Der Computer ist verschwunden“, sagte Mary Alice. „Habe ich das noch nicht gesagt?“

 

„Verschwunden? Wohin?“ Trinity, die im Aufstehen begriffen war, sank wieder in ihren Stuhl zurück.

„Was erzählst du denn da?“, fragte ich.

„Er ist verschwunden. Ich hatte ihn zusammen mit Megs Sachen auf dem Bett, um heute Morgen alles hier herüberzubringen, und als ich ihn holen wollte, war er nicht dort. Die restlichen Dinge lagen aber noch da. Sie sind draußen in meinem Wagen.“

„Warten Sie einen Moment.“ Georgiana setzte sich und starrte Mary Alice an. „Lassen Sie mich das noch mal klarstellen. Sie reden von Megs kleinem Laptop, dem in der Ledertasche.“

„Ich glaube nicht, dass es echtes Leder war“, sagte Mary Alice. „Und die andere Aktentasche ist auch verschwunden. Zumindest hat es den Anschein. Ich dachte, ich packe schon mal alles zusammen, damit ich heute Morgen nichts vergesse. Ich war so aufgeregt, weil ich mich noch für den Opernbesuch in Atlanta fertig machen musste, verstehen Sie?, weshalb noch eine minimale Chance besteht, dass ich sie irgendwo anders hingetan habe. Ich glaube es aber nicht.“

„Mist“, sagte Georgiana Peach, was ich so interpretierte, dass sie kein Verständnis hatte. „Ein paar ihrer Recherchearbeiten waren für meine Firma.“

„War Ihre Alarmanlage an?“, fragte Trinity.

„Natürlich. Und alles war unversehrt, als ich nach Hause kam.“ Schwesterherz hielt ihre Hände in einer „Ich-gebe-auf“-Geste nach oben. „Die Sachen müssen irgendwo bei mir sein. Aber wisst ihr, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich den Laptop und die Aktentasche direkt in der Mitte des Bettes liegen.“

Ich ergriff das Wort. „Willst du die Polizei anrufen?“

„Nicht bevor ich nicht jeden Zentimeter meines Hauses

 

abgesucht habe. Wahrscheinlich kommt da so ein zwanzigjähriger Polizist rein und findet den Computer mitten auf dem Küchentresen, wo ich ihn hingestellt hatte.“ Mary Alice presste ihre Hände an die Stirn. „Lieber Gott, ich werde paranoid.“

„Wer außer Ihnen kennt die Kombination für die Alarmanlage?“, fragte Georgiana.

„Niemand außer Patricia Anne und meiner Tochter Deb-bie, die in Gatlinburg ihre Flitterwochen verbringt. Zufällig hat sie gerade heute Morgen angerufen, Maus. Sie sagte, sie seien draußen joggen gewesen. Kannst du dir Debbie am frühen Morgen beim Joggen vorstellen? Und sie ist sehr glücklich.“

Ich strahlte. „Das freut mich so. Ich habe dir immer gesagt, dass Henry ein wundervoller Mensch ist, stimmt's? Man konnte das schon den Aufsätzen entnehmen, die er in meinem Literaturkurs in der elften Klasse schrieb. Ich erinnere mich noch an einen, den er zu >Madame Bovary“ ver-fasste. Ich wusste, er würde einmal einen guten Ehemann abgeben, weil er verstand, wie sehr Emma litt.“

Georgiana brachte uns wieder aufs richtige Gleis zurück. Sie wandte sich an Trinity und fragte sie, wo Meg ihre Sicherungsdisketten aufbewahrte.

„Keine Ahnung“, sagte Trinity. „Ich weiß gar nichts, was Megs Computer betrifft.“

„Außer dass Richter Haskins versucht hat, ihn neulich im Park zu stehlen.“ Ich erzählte Georgiana, wie er mit dem Laptop unter dem Arm davongelaufen war.

„Nun, Bobby Haskins war nicht in meinem Haus“, sagte Schwesterherz, „was bedeutet, dass der Computer da irgendwo sein muss. Er wird schon wieder auftauchen.“

Trinity stand auf. „Sie haben recht. Ich mache mir auch

 

keine Sorgen deswegen. Sie können ihn mitbringen, wenn Sie zu Megs Abschiedsfeier kommen.“

Wir sahen sie verständnislos an.

„Eine Party im Grand Hotel. In unserer Familie finden keine Beerdigungen statt, wir geben nur eine Abschiedsfeier. Das ist in Süd-Alabama weit verbreitet. Man kann sie sogar im Voraus planen.“

Tränen traten mir in die Augen. Ich dachte daran, wie Fred die Hochzeit eine „Feier des Lebens“ genannt hatte, was sie auch gewesen war. Aber wie klug und sensibel war es doch, das Leben in seiner Ganzheit zu feiern.

„Ich hoffe, Sie können kommen“, sagte Trinity.

Wir versicherten ihr, dass dies der Fall sein würde, sie solle uns nur wissen lassen, wo die Party stattfände.

„Haben die Anwesenden die Gelegenheit, nette Dinge über die zu ehrende Person zu sagen? Patricia Anne und ich haben nämlich neulich bereits ein paar Nettigkeiten über Meg zusammengetragen.“

Meg hatte saubere Fingernägel. War es nicht das, was Schwesterherz gesagt hatte? So weiß, dass es unwirklich aussah? O Gott. Ich sah Schwesterherz bereits vor mir, wie sie im Grand Hotel jeden mit dieser Information versorgte.

„Manchmal tun sie das“, sagte Trinity. „Manchmal erzählen sie die Wahrheit“, fügte sie mit einem ironischen Lächeln hinzu. Der Rest von uns erhob sich. „Ich ruf Sie an“, sagte sie.

Schwesterherz sagte, sie wolle Trinity in die Stadt zu ihrem Auto mitnehmen und sich dabei alles über ihren Gefängnisaufenthalt erzählen lassen. Und stimme es denn, was man sich so über die Birminghamer Polizei erzähle? Doch sicher nicht.

„Sie haben sich sehr höflich benommen“, sagte Trinity. „Einer von ihnen, der unter einer Autobahnbrücke lebt, hat

 

mir wunderbar das Schummeln beim Kartenspiel beigebracht.“

„Wir sollten sie wirklich besser bezahlen“, sagte Schwesterherz.

Georgiana fuhr in einem alten beigefarbenen Plymouth, der ihren neu erlangten Wohlstand Lügen strafte, zur Arbeit. Die beiden anderen brausten mit heruntergelassenem Verdeck, das dafür sorgte, dass Trinity ihren blauen Filzhut festhalten musste, im Cabrio meiner Schwester in den warmen Frühlingsmorgen davon und ließen mich mit der Frage am Gehsteig zurück, ob Megs Asche es wohl bis Mobile Bay schaffen würde.

Das Haus kam mir seltsam leer vor, als ich nach drinnen ging. Seit den Tagen vor der Hochzeit war ständig jemand da gewesen und hatte all der Trubel geherrscht, der mit einer großen Familienzusammenkunft einhergeht. Ich gab einen erleichterten Seufzer von mir und sank mit der Morgenzeitung auf das Sofa im Wohnzimmer nieder.

Auf der zweiten Seite fand ich einen ersten Bericht über Megs Tod. In einem kurzen Artikel wurde erklärt, dass der Tod einer Frau, die sich aus dem zehnten Stock des Gerichtsgebäudes gestürzt habe, auf Selbstmord zurückzuführen sei. Bei der Frau handele es sich um die 64-jährige Margarer March Bryan aus Fairhope/Alahama. Mrs. Bryan -eine bekannte Ahnen forsch er in - habe sich in Birmingham aufgehalten, um an einer Hochzeitsfeier teilzunehmen.

Sie hatten sich ganz offenkundig nicht mit Trinity unterhalten, dachte ich. Ich blätterte zur nächsten Seite und erfuhr, wer für den Oscar nominiert worden war. Dann blätterte ich wieder zurück und las den winzigen Artikel über Meg ein zweites Mal. Ich warf einen Blick auf die Werbung von Rieh Shoes und blätterte wieder auf Seite zwei zurück.

 

Der Artikel bewegte mich. Es ging mir irgendwie zutiefst nahe, Megs Tod auf ein paar Worte reduziert zu finden.

„Sie war nicht im leisesten selbstmordgefährdet“, hatte Trinity gesagt.

„Es fällt mir nur schwer zu glauben, dass Meg Bryan gerade auf diese Art Selbstmord verübt haben soll“, waren Freds Worte gewesen.

„Die Art und Weise ist alles andere als damenhaft.“ Dieser Satz von Mary Alice mischte sich unter die anderen.

Ich las den Artikel ein weiteres Mal. Eine gesunde vier-undsechzigjährige Frau, die aktiv im Berufsleben stand und einer Tätigkeit nachging, die sie als spannend empfand und mit der sie erfolgreich war, eine Frau, die keinerlei depressive Vorgeschichte hatte, gut mit Freunden zu Mittag gegessen hatte und völlig auf dem Damm schien, hatte plötzlich beschlossen, aus einem Fenster im zehnten Stock zu springen. Eine Frau, die zufälligerweise auch noch an Höhenangst litt.

Und das sollten wir glauben?

Die Behörden taten es offenbar. Richter Haskins hatte dafür gesorgt.

„Halt dich da raus, Patricia Anne“, konnte ich Fred noch sagen hören, der jetzt auf dem Weg nach Atlanta war. Der Gute. Er hatte so viel von sich selbst in sein Geschäft investiert.

Ich seufzte, griff nach dem Telefon und rief den Big, Bold and Beautiful Shop an. Ich brauchte jemanden, der meiner Geschichte aufmerksam zuhörte. Jemanden, der weder Trinity noch Richter Haskins oder gar Georgiana Peach kannte.

„Big, Bold and Beautiful“, meldete sich Bonnie Blue vergnügt.

„Geh mit mir essen“, sagte ich.

 

„Hey, Patricia Anne, ich habe gerade an dich gedacht. Wie kommt es, dass du heute keinen Förderunterricht gibst?“

„Frühlingsferien.“ Seit meiner Pensionierung gab ich an der örtlichen High School Förderstunden, vor allem in Mathematik. Und nach all den Jahren, in denen ich Aufsätze hatte korrigieren müssen, war Mathe die helle Freude. „Kannst du mittags freimachen?“

„Klar. Gehen wir ins Green and White?“

„Da hängen einem immer die Farne in den Teller.“

„Okay, du alte Mäkeltante. Such du was aus. Ich kann aber nur für eine Stunde weg.“

„Wie wär's, wenn ich uns im Piggly Wiggly was auf die Hand hole und wir in den Park gehen?“

„Klingt gut. Nimm aber nicht den Kartoffelsalat mit Senf.“

„In Ordnung. Um eins?“

„Prima.“

Als ich auflegte, ging es mir besser. Bonnie Blue Butler hat stets diese Wirkung auf mich.

Ich wechselte die Bettwäsche im Gästezimmer und warf die Waschmaschine an. Nachdem ich die letzte Schnecke gegessen hatte, machte ich die Küche sauber und wischte sogar den Boden. Dann saugte ich im Wohnzimmer, duschte, erkämpfte mir in der Mittagszeit einen Parkplatz beim Piggly Wiggly und fuhr zum Big, Bold and Beautiful Shop. Ich war zehn Minuten zu spät, und Bonnie Blue stand bereits wartend vor der Tür.

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich.

Sie warf einen Blick ins Auto. „Hauptsache, du hast nicht die Sorte mit dem Senf gekauft.“

Wir fanden einen leeren Betontisch samt Bank. Ich hatte ein rotweißes Plastiktischtuch mitgebracht, das ich ausbrei-

 

rere, während Bonnie Blue den Inhalt des Einkaufsbeutels musterte.

„Mmm. Polnische Essiggurken. Ich Hebe diese Dinger. Mmmm. Gebackene Bohnen.“

„Ich habe für jede von uns auch noch eine Hühnerbrust“, sagte ich.

„Und Diätcola. Danke, Patricia Anne.“

Wir füllten unsere Teller und griffen zu. Ich war überrascht, wie hungrig ich nach all den Hefeschnecken war.

„Das ist prima“, sagte Bonnie Blue und nahm einen großen Bissen von dem Huhn. „Eine gute Ideellen stimmte ihr zu. Aufgrund der Ferien und des warmen Tages rannten Unmengen spielender Kinder im Park herum. Ich beobachtete sie träge während des Essens.

„Kartoffelsalat“, sagte Bonnie Blue. Ich reichte ihr die Schachtel.

„Ich muss dir was erzählen“, sagte ich, als unsere Teller leer waren und wir die Deckel wieder auf die Kartons setzten.

„Was? Dass du noch einen Keks willst?“

„Nein. Du weißt, dass ich deinem Urteil vertraue, ja?“

„Du Hebe Güte, Patricia Anne. Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“

„Nichts. Gar nichts. Darüber wollte ich ja mit dir reden.“

„Okay. Aber tu dann bloß nicht, was ich dir sage, sonst bin ich noch schuld.“

„Versprochen. Jetzt hör aber zu, die Sache ist nämlich ziemlich kompliziert. Erinnerst du dich an diese nette Cousine von Henry, die bei der Hochzeit die Mutter des Bräutigams vertreten hat? Meg Bryan?“

Bonnie Blue nickte. „Natürlich. Das ist doch die, die Ahnenforschung betreibt.“

 

„Betrieb, Bonnie Blue. Vergangenheit. Diese Frau ist letzten Montag aus dem Gerichtsgebäude gesprungen und hat Selbstmord verübt. Zumindest sagen das die Behörden.“

„Wie bitte?“

Ich hatte Bonnie Blues volle Aufmerksamkeit. Ich erzählte ihr von dem Mittagessen, den Kalbsmedaillons mit Orangensauce, Richter Haskins, der Bibliothek und den Sirenen, dem Park und der Leiche. Ich erzählte ihr von dem Computer, von Trinity, Georgiana Peach und dem Drogenfahnder, der unter der Autobahnbrücke lebte. Aber vor allem erzählte ich ihr, dass ich nicht an einen Selbstmord von Meg Bryan glaubte.

Bonnie Blue hörte mir aufmerksam zu und nickte gelegentlich. Als ich endlich alles abgespult hatte, klopfte sie nachdenklich mit dem Zeigefinger an ihre Lippen und blickte zu den spielenden Kindern hinüber.

„Du hast nicht mit der Polizei darüber gesprochen?“, fragte sie schließlich.

„Nein, aber Richter Haskins. Und Trinity Buckalew natürlich. Sie sei sich sicher, hat sie denen dort erzählt, dass der Richter Meg getötet hat.“

„Was hältst du davon, ebenfalls die Polizei aufzusuchen und ihnen zu erzählen, dass du der Ansicht bist, sie sei ermordet worden?“

Ich dachte einen Moment über ihre Worte nach. „Die würden nichts unternehmen. Für die ist der Fall abgeschlossen.“

„Dann bin ich also zu einem leckeren Essen gekommen, nur um dir zu sagen, was du bereits weißt, richtig?“

„Ich denke ja.“

Bonnie Blue runzelte die Stirn. „Halt dich da raus, Patricia Anne.“

 

„Mach ich. Versprochen. Es geht mich wirklich nichts an.“

„Ganz richtig. Vergiss es nur nicht.“ Bonnie Blue warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ich muss gehen.“

Wir schüttelten das Tischtuch aus und warfen den Abfall in den Mülleimer. Eine leichte Brise wehte von Süden her. Sie war zu warm.

„Wir werden Sturm bekommen“, sagte Bonnie Blue.